Konkord 105
Wohlerzogen!
Tonfabrik
„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern!“ Und schon gar nicht mit den Stahlstadtkindern. Wohlerzogene Damen und Herren tun das nicht. Stopp! Für das Linzer Trio Tonfabrik heißt Wohlerzogen Stellung beziehen, kuscheln, aber nicht kuschen. Übrigens: nicht kuschen - eine Spezialität der Stahlstadtkids. Mit Bands wie Texta, Willi Warmer, Seven Sioux wird der Klartext zum Programm einer brodelnden Linzer Kulturszene. Statements zur Lage der Nation in drei Minuten.
Mit ihrer aktuellen Release Wohlerzogen reiten Christoph Leitner-Kastenhuber (Gitarre, Stimme), Michael Jakobi (Bass) und Friedolin Baumann (Schlagzeug) auf dieser Welle - mit ganz eigenem Tonfall: Akustikgitarre, Bass, Schlagzeug, einige Tupfer Cello, Bläser - c'est tout für einen lässigen Sound. Sparsam? Ja. Vielstimmig? Klar. Wenn du wirklich was zu sagen hast, dann kannst du eine ganze Welt in Strophe und Refrain packen. Hot wie der Hochofen und eindringlich wie die Signaltröte schmieden sie einen tighten Pop, der klarstellt: In Zeiten wie diesen, in denen der Ton schärfer wird, und der Tellerrand, über den man blicken sollte, immer stärker zu einem Kaffeehäferl mit brauner Sauce mutiert, setzen Tonfabrik starke Signale mit starken Melodien.
Mit Rechtsdrall knallen wir an die Wand. Und keiner hat danach davon gewusst? Ampelmann - die erste Single aus Wohlerzogen - räumt mit rumpeligem Drive auf mit der Laschheit und Laxheit des Mir-doch-Wurst! Mit erhobenen Zeigefinger? Genau nicht. Wohlerzogen ist das 12-Song-Tagebuch einer Generation, die Schluss machen will mit freudigem Anpassen und Funktionieren. „Du musst an dir arbeiten!“, „Ein bisschen Verbiegen schadet nicht“, „Vordrängen ist Selbstschutz!“ Kampfsätze gegen das Leben. Zusammenschlagwörter. Eine Generation, die im „Ozean der social media ertrinkt“, und die nach einem Rettungsring greift. Und Tonfabrik sind mit ihren Songs mittendrin „Ich hab euch viel zu lange zugesehen, viel zu lange nur zugehört.“ Mit dem ersten Song auf der Platte feiern sie gleich ein Ende. „Man sagte mir viel zu oft, sei lieber still. Damit ist jetzt Schluss.“ Aufbruch ins Neue - das Versprechen, das uns die Songs von Woody Guthrie, MC5, Billy Bragg, Ton, Steine, Scherben gegeben haben.
Tonfabrik mischen aber nicht alte Karten. Der Sound ist frisch, catchy - im besten Sinn Pop: Bourgeoisie - ein Ohrenschmeichler vom Feinsten, mit wunderbarem Cello und tänzelnden Trompeten - da swingen nicht nur die Marionetten. Oder der Refrain von Johnny. Alltagsbeobachtungen werden zu Strophen. Die Nerven liegen blank in der Schlacht called Autoverkehr? Nicht gerade Thema #1 in der Musik. Meint man. Tonfabrik schalten trotzdem einen Gang höher und liefern die richtigen Tunes dazu. Die Risse im Alltag beobachten, das Unbehagen in der Gesellschaft beobachten, das ist im Pop „[…] mehr als die Summe der einzelnen Teile.“ Nicht von ungefähr zitieren wir hier Kante - der Gesang Christoph Leitner-Kastenhubers steht in seiner Klarheit, Präzision und Leichtigkeit der Hamburger Schule nahe. Linz - Hamburg: schnellste Verbindung? Mit Wohlerzogen in 40 Minuten.
Das heimliche Energiezentrum von Wohlerzogen ist aber Den letzten Zug nehmen wir zusammen. Wie die Jungs den Song bremsen und gleichzeitig perlen lassen, um ihn dann unaufgeregt in eine Hymne des glücklichen Moments zu wandeln - dafür würde sogar Sven Regener freiwillig den Dreien eine Flasche Pils aufploppen.
Wer kämpft kann verlieren. Wer es nicht tut, hat schon verloren. Pop bringt Liebe, Wut, Abenteuerlust, Zorn, Irrsinn und Freude auf einen simplen Punkt: 1 gute Melodie, 1 guter Groove, 1 gute Story - und das alles in 4 Minuten. Die Jungs von Tonfabrik schaffen das Kunststück: Wohlerzogen ist eine Pop-Platte, die berührt, aneckt, träumt, aufräumt, ausspricht, anspricht - und die Verhältnisse zum Tanzen bringt.